Seltsame Verschiebungen

Jochen Volz

Auf dem Dach des Glasvorbaus des Casino Luxemburg, dem sogenannten „Aquarium“, stehen sieben seltsame, fahl gelbliche Figuren. Sie sind in Reihe, mit gleichbleibendem Abstand und nach Größe geordnet: ein Löwe, zwei Männer, verschiedene geometrische und organisch-abstrakte Formen. Die Gruppe hat etwas unbeholfenes, als habe sie sich zu einer Parade auf dem Dach zusammengefunden. Sie sind ein sonderbares Sortiment von Skulpturen, wie man sie als das gängige urbane Mobiliar kennt; ein bisschen Abstraktion und ein bisschen Historie, ein paar Lokalkünstler und ein paar Helden in angenehmer Mischung.

Diese Plastiken auf dem Dach sind zwar unterschiedlich in ihren Formen, doch die Materialität ist identisch. Ihre hellen, milchigen Körper verneinen jegliche Statik und Solidität. Sie wirken wie aus Seife gegossen, und je dunkler es wird desto mehr meint man, ein leichtes Glimmen ihrer Körper wahrnehmen zu können. In der Nacht schließlich scheinen sie ihre Materialität ganz aufgegeben zu haben. Wie geisterhafte Gestalten glühen sie in ihrem grünlich gelben, phosphoreszierenden Licht. Diese sieben Plastiken sind Teil von Simone Deckers zwölfteiliger Ghost-Serie: Ghost Auguste, Ghost Carl, Ghost Lucien, Ghost Winston, Ghost Ulrich, Ghost Daniel und Ghost Michi sind die Titel der Protagonisten auf dem Dach. Die Namen verraten nicht viel, stattdessen suggerieren sie eine familiäre oder freundschaftliche Vertrautheit. Und in gewisser Weise könnte tatsächlich diese Vertrautheit für Besucher der Ausstellung gegeben sein, denn Simone Deckers Plastiken beziehen sich auf existierende Skulpturen und Plastiken anderer Künstler im öffentlichen Raum der Stadt Luxemburg. Die Werktitel greifen entweder die Namen der Bildhauer oder der Dargestellten auf. Fünf weitere Objekte hat Simone Decker im Untergeschoss des Luxemburger Ausstellungshauses installiert, bei welchen die Leuchtkraft aufgrund der völligen Dunkelheit im Raum wesentlich intensiver wahrzunehmen ist.

Aus der Nähe wird die technische Vorgehensweise der Künstlerin deutlich, denn es lassen sich Schichten wie aus Gipsverband erkennen. Es handelt sich bei den Plastiken um Abgüsse der in der Stadt vorgefundenen Kunstwerke, die Simone Decker mithilfe thermoplastischer Stützverbände in Verbindung mit Epoxidharz und phosphoreszierendem Pigment angefertigt hat. Die Arbeitsmethode wird bewusst nicht kaschiert. Die Einfachheit und Geschwindigkeit dieses eigens entwickelten Abgussverfahrens ermöglichte, dass Deckers Ghosts direkt an den Vorlagen in den Straßen von Luxemburg entstehen konnten. Durch das Umwickeln der Werke mit Verbandmaterial gehen jedoch die Feinheiten der Oberflächenstruktur und -zeichnung verloren, scharfe Umrisslinien werden durch weichere und scheinbar fragilere Linien und Kanten ersetzt. Deckers Abgüsse wirken in ihrer äußeren Gestalt eher wie mumifizierte Nachbildungen ihrer Vorlagen. Es kommt zu einer fein inszenierten Verschiebung, die über die geographische hinausgeht und die typisch ist für das Werk von Simone Decker.

Der Weg bis zur Aufstellung von Skulpturen und Plastiken im öffentlichen Raum ist mühsam und wird meist lange und kontrovers diskutiert. Dies geschieht nicht ausschließlich aus ideologischen oder ökonomischen Gründen. Vielmehr scheint ein Stadtraum durch die Einführung eines Kunstwerkes, sein eigenes hierarchisches Gefüge derart zu verändern, dass es unter den Nutzern dieses Raumes zu Irritationen und Protest kommt. Sobald aber das Objekt seinen festen Platz gefunden hat und nach einiger Zeit zum gewohnten Einrichtungsgegenstand geworden ist, dann werden die Arbeiten in der Regel einfach akzeptiert, oft ignoriert. Unzählige Male ist man schon über denselben Platz gegangen, doch die Brunnenfigur entdeckt man erst nach Jahren, weil zufällig der Blick darauf haften bleibt. Das Denkmal mit dem voluminösen Sockel versucht man wiederum seit Monaten zu umgehen, kann es aber nicht lassen, wieder den toten Blick des Geehrten zu erwidern. Und den kubischen Steinklotz in der Fußgängerzone hat man nie leiden können. Kunstwerke im öffentlichen Raum haben generell etwas geisterhaftes. Sie erscheinen einem in unregelmäßigen Abständen, sie können einen verfolgen oder in Ruhe lassen, aufregen oder langweilen. Und sehr oft ist man erstaunt festzustellen, dass sie immer noch da sind.

Simone Deckers Ghosts führen die bekannten und unbekannten, geliebten oder ungeliebten Kunstwerke dem Betrachter in ihrer Ausstellung erneut vor Augen, nicht länger als physische Körper, sondern vielmehr als Nachbilder, gerade so als haben sich die Objekte im Original untertags auf der Retina der Passanten abgezeichnet und würden nachts als negative Erscheinung vor der Fassade des Casinos erneut aufglühen; oder eben als Geister der Skulpturen, die irgendwo in der Stadt ihr Dasein fristen und dank Deckers Arbeit nun wenigstens als glühender Abguss für eine gewisse Zeit unter ihresgleichen kommen.

Durch die Verwendung von phosphoreszierendem Pigment wird den Plastiken ein neues Konzept von Zeit geschenkt. Tagsüber speichern die Farbmoleküle Energie, um sie nachts wieder in Form des so eigenen grünlichen Lichts abzugeben. Ähnlich dem menschlichen Lebensrhythmus werden Aktivität und Regeneration durch den Kreislauf der Sonne festgelegt. Und so scheinen die Plastiken bei Decker plötzlich ein zyklisch organisiertes Leben zu haben, was der Existenz ihrer Vorlagen diametral entgegensteht. Wie jedes Denkmal oder Monument sind diese mit der Motivation der Dauerhaftigkeit, wenn nicht gar der Unsterblichkeit aufgestellt worden; kämpfen jedoch auch sie tatsächlich gegen den Prozess des Alterns.

Simone Deckers Herausgreifen und die künstlerische Aneignung der Skulpturen sowie die Installation der Nachbildungen in ihrer Ausstellung führt gezielt zur Befragung von Gewohnheiten und Ordnungssystemen. Die Objekte auf dem Dach sind jeweils aus dem architektonischen Zusammenhang ihrer eigentlichen individuellen Inszenierung gelöst. Stattdessen werden sie Teil einer Installation, in der sie ausschließlich nach dem Kriterium der Größe zueinander positioniert sind. Der Abguss des Bildnisses von Winston Churchill und der Abguss der geometrischen Abstraktion von Ulrich Rückriem beispielsweise sind nur deshalb zu Nachbarn geworden, weil die Vorlagen ähnliche Höhen haben. Diese Ordnung der Plastiken nach rein formalen Gesichtspunkten, die sich über jegliche inhaltliche Bedeutung hinwegsetzt, ist Ausdruck eines sehr persönlichen Umgangs mit den verschiedenen Motiven bürgerlicher Repräsentation, deren Ausdruck Skulpturen im öffentlichen Raum immer sind.

Die Geister sind ein Alternativvorschlag zu Wahrnehmungsgewohnheiten, nach welchen Kunstwerke im öffentlichen Raum als Gegebenheiten hingenommen werden. Sie sind Angebote einer verschobenen Perspektive, die den Stadtraum als den eigenen Raum anerkennt, und die öffentliche Kunstsammlung einer Stadt als aktiven Bestandteil der Lebenswelt ihrer Bewohner. Die Geister werden bei Simone Decker zu alten Bekannten, die einem schon ein paar Mal aufgelauert haben: Ghost Amalia, Ghost Maggy, Ghost Fabrizio, Ghost Henri, Ghost Bernar.

Das Motiv der Perspektivverschiebung und gerade auch die Auseinandersetzung mit der Inszenierung öffentlichen Raumes findet sich immer wieder im Werk von Simone Decker. Einige Beispiele sind Arbeiten wie Chewing in Venice (1999), Prototypes d’espaces infinis (1999/2001), Jérémy (1999), Pavillons im Musterbau und drumherum (2000), Seaworld Biel-Bienne (2000), 20 pavillons pour Saint-Nazaire (1999) oder Glaçons 1-9 (2001).  Es handelt sich bei all diesen Werken um Fotografien, meist Serien von Fotografien, die Plastiken, Skulpturen oder architektonische Elemente für den öffentlichen Raum vorschlagen. Sie sind Dokumentationen wirklicher Installationen dieser Objekte im Außenraum. Doch erst die Perspektive der Kamera verleiht den Werken eine visuelle Präsenz und eine Dimension, die sie in das von der Künstlerin gewünschte Verhältnis zu der urbanen oder architektonischen Umgebung stellt. In Chewing in Venice beispielsweise werden die Kaugummi-Gebilde nur durch die Tatsache, dass sie aus nächster Nähe vor dem Fotoobjektiv aufgenommen wurden, zu Plätze und Gassen füllenden Skulpturen. Diese können aufgrund ihrer organischen Formen und ihrer elastischen Oberflächenbeschaffenheit als Anti-Formen klassischer Skulpturen im Stadtraum bezeichnet werden. Auch hier sucht Decker gerade nicht das Statische, Feste, Dauerhafte oder Geschlossene.

In den fotografischen Arbeiten gelingt es Simone Decker wieder, sich den öffentlichen Raum anzueignen, wenn auch in einem umgekehrten Sinne. Während sie bei der plastischen Arbeit Ghosts die den öffentlichen Raum prägenden Kunstwerke herausgreift und in den Kontext ihrer eigenen Arbeit übersetzt, nutzt sie hier die Mittel der fotografischen Dokumentation, um ganze Plätze, Straßen oder Gassen zu Bestandteilen beziehungsweise zu Kulissen ihrer Arbeit zu machen. Dass die Künstlerin dabei bisweilen einen ironischen Ton anschlägt, zeigt sich vor allem in den fotografischen Werken, die eine eigenständige Narration andeuten, wie beispielsweise in Turtle show (2000) und in Le va-et-vient du Mont Saint-Watou, (2000) oder aber in Recently in Arnhem (2001), einer Serie von vier großformatigen Fotoabzügen, die von einem sehr eigenwilligen Naturspektakel neben der Rheinbrücke erzählen.

Zwei weitere Arbeiten müssen in diesem Zusammenhang betrachtet werden. So weiß, weißer geht’s nicht (2000) ist eine Reihe von Nachtaufnahmen, die diverse Straßenzüge bzw. Häuser zeigen. In jedem der Bilder erstrahlt entweder eine Hauswand oder gar ein ganzer Bau in völligem Weiß, gerade so als sei die eigentliche Fassade durch einen gigantischen Leuchtkörper ersetzt. Tatsächlich sind aber die Gebäude selbst durch leistungsstarke Bühnenlichter gleißend hell angestrahlt worden. Der Effekt, der die  Fassadenflächen weiß erscheinen lässt, ist wiederum nur durch das Medium der Fotografie wahrnehmbar. Erst durch eine leichte Überbelichtung scheinen die Häuser ihre Materialität, Struktur und Festigkeit aufzugeben, und werden zu Leuchtkörpern. Für das bloße Auge vor Ort war das so nicht sichtbar.

Auch in dieser Arbeit greift Simone Decker direkt in ihre Umwelt ein, denn die Häuser in So weiß, weißer geht’s nicht sind in Wirklichkeit beleuchtet worden. Doch es findet sich ein interessanter Gegensatz zwischen der Aktion in der Kleinstadt Borken und der Dokumentation dieser Aktion, die gleichzeitig das Ergebnis der Arbeit ist. Vor Ort sind die Gebäude und Fassaden durch die starke Beleuchtung ungewöhnlich sichtbar geworden, in der Dokumentation gelingt jedoch gerade das Gegenteil. Die Fotografien erzählen von einem Absurdum, davon dass hier etwas beleuchtet wird, um unsichtbar zu werden. Das wird ausschließlich unter Einführung des zeitlichen Faktors der Belichtung im Fotoapparat wahrnehmbar. Wieder liegt eine Reihe von kleinen Verschiebungen vor, mit denen Decker Gewohnheiten befragt. Die Hausfassaden wirken wie ausradiert, sie glänzen im wörtlichen Sinne in Abwesenheit. Es ist dieses Konzept der Abwesenheit, das klar vom Phänomen der Leere unterschieden werden muss, durch das Simone Decker Dinge sichtbar macht. Die Fotografien wirken durch die künstliche Beleuchtung wie Filmsets, und so werden die schneeweißen Formen zu Projektionsflächen, auf denen man sich als Betrachter einiges zurechtlegt: die vermutete Gestalt der abwesenden Hausfassade, die Geschichte des Gebäudes und seiner Bewohner, die Zukunft dieser Wohngegend, aber auch die eigenen Erfahrungen, Wünsche und Ängste vorm kleinstädtischen Leben.

Für Curtain wall (2002) hat Simone Decker vier verschiedene Gebäude in Toulouse fotografiert und die Fotos anschließend auf über sechs Meter hohe Vorhangbahnen drucken lassen. Diese lebensgroßen Architekturansichten wurden dann in jeweils anderen Bezirken der Stadt in Nischen, an ungenutzten Ecken oder in Gassen in einer Weise installiert, dass der Eindruck entstand, die Gebäude hätten vorübergehend dort ihren neuen Standort gefunden. Mehr als um die spektakuläre Illusion ging es aber hier eher um minimale Neuzusammensetzungen oder Modifikationen des Stadtbildes. Neue architektonische Nachbarschaften sind für die Dauer der Ausstellung entstanden, die den umliegenden Straßen und Plätzen ein anderes Gesicht gaben, und zudem die verschiedenen Viertel mit ihren sehr eigenen sozialen Profilen verbanden. Darüber hinaus gelang es Simone Decker, durch die Verwendung von frei abgehängten Vorhängen auf sehr eindrückliche Weise dem Statischen städtischer Architektur eine sehr temporäre und flatternde Alternative entgegenzusetzen. Für ihre Ausstellung im Casino Luxemburg hat Simone Decker diese Arbeit für den Innenraum übersetzt und die Vorhänge so installiert, dass der Eindruck ganzer Straßenfluchten mit Hausfassaden und Gebäudekanten entsteht als collagierte Fragmente der Stadt Toulouse. Der eigentliche Ausstellungsraum, in dem die Vorhänge wie Raumteiler abgehängt sind, hat dabei seinen eigenen Charakter und auch seine eigene Perspektive und Proportion weitgehend verloren.

Während Simone Decker in Ghosts sich aus dem Stadtraum eigene Mitspieler sucht und in den obengenannten fotografischen Arbeiten wie beispielsweise in Chewing in Venice die Stadt als Kulisse für ihre Interventionen nutzt, so bearbeitet sie in So weiß, weißer geht´s nicht und in Curtain wall den urbanen Raum direkt als Kulisse. Curtain wall und So weiß, weißer geht´s nicht wirken dabei wie zwei sich komplementär begegnende Aspekte desselben Ansatzes. Dem temporären Entfernen von Architektur durch Licht wird eine temporäre Ergänzung der Architektur durch Vorhänge entgegengesetzt. Wieder gelingt es der Künstlerin, einen subtilen Alternativvorschlag zu machen, der nahelegt, den städtischen Raum nicht länger nur als Kulisse, sondern als veränderbare Kulisse des eigenen Lebens anzuerkennen.

In Simone Deckers Werk stehen die fotografischen Arbeiten gleichberechtigt neben skulpturalen und installativen Arbeiten. Materialien, Techniken und Dimensionen scheinen, sich ausschließlich aus der Notwendigkeit eines Projektes zu ergeben. Alle Arbeiten erzählen eher durch seltsame Verschiebungen als durch spektakuläre Inszenierungen von einer Vielzahl von Möglichkeiten und einem enormen Potential, sie scheinen Ausdruck eines Glaubens an Veränderbarkeit zu sein. Wie die fotografischen Arbeiten haben auch Simone Deckers Plastiken und Installationen immer den Charakter von Prototypen, von Modellen für ganz andere, neue Interventionen. Die Umsetzung der Toulouser Vorhangarbeit in der Luxemburger Installation im Innenraum könnte dafür ein Beispiel sein. Eine Hierarchie, die den Vorschlag von der Ausführung, die Kopie vom Original oder eben das Werk und die Dokumentation voneinander trennt, scheint für Simone Decker nicht zu existieren. Vielmehr legen ihre Arbeiten nahe, dass öffentlicher Raum vereinnahmt werden kann, vielleicht sogar muss, und dass es unwichtig ist, ob ein Eingriff in den Stadtraum tatsächlich im großen Stil oder eben nur mit den vorhandenen Mitteln oder einer leichten perspektivischen Verzerrung umgesetzt werden kann.

Jochen Volz

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